Wie wir Dinge formulieren, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir Informationen verarbeiten und anschließend darauf reagieren. So sehr, dass es trotz überzeugender Beweise für das Gegenteil äußerst schwierig sein kann, ein etabliertes Vorurteil abzuschütteln. Wenn ein Etikett erst einmal haftet, kann es offenbar sehr schwer sein, es zu entfernen.

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Ein Beispiel dafür sind die Schwellenländer. Im schlechtesten Fall vermittelt das Etikett ein irreführendes Bild. Bestenfalls gelingt es ihm nicht, die Nuancen, die hinter jedem einzelnen Land und Emittenten stehen, vollständig zu erfassen. Unsere verhaltensbezogenen Eigenarten führen dazu, dass viele Investoren dazu neigen, Schwellenländer strukturell unterzugewichten, insbesondere wenn es um die Allokation von Anleihen geht.
Viele der folgenden Fakten sind allgemein bekannt, aber durchaus wert, wiederholt zu werden, um unsere kognitiven Irrtümer auszugleichen.
Gemessen am BIP entfallen auf die Schwellenländer inzwischen rund 60 Prozent der Weltwirtschaft.1 Während die Populationen der Industrieländer stagnieren und schwinden, sind die der Schwellenländer jung und fruchtbar; etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung, fast sechseinhalb Milliarden Menschen, leben in den Schwellenländern.2
Die Schwellenländer verfügen jedoch nicht nur über junge und dynamische Arbeitnehmerschaften, auch die sozioökonomische Zusammensetzung ihrer Bevölkerungen verändert sich. Das Brookings Institut prognostiziert, dass sich die globale Mittelschicht in den nächsten zehn Jahren verdoppeln und bis 2030 4,8 Milliarden erreichen wird, wobei 79 Prozent in Entwicklungsländern leben.3
Angesichts ihres schieren demografischen Gewichts ist es möglicherweise nicht verwunderlich, dass die Schwellenländer in den kommenden Jahren die wichtigsten Treiber des globalen Wachstums sein werden. In seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF), dass sich der Unterschied in den Wirtschaftswachstumsraten zwischen Schwellen- und Industrieländern in den nächsten fünf Jahren auf 3,2 Prozent nahezu verdoppeln wird.4 Hochgerechnet auf die aktuellen Wachstumsraten und den Anteil der Schwellenländer an der Weltwirtschaft erwartet der IWF, dass ihre Volkswirtschaften bis 2024 84 Prozent zum globalen Wachstum beitragen werden.5
Auch die Instrumente innerhalb des Schwellenländer-Anleihenuniversums sind stark gewachsen – 257 Prozent Wachstum in den letzten zehn Jahren –, während die Zahl der Länder im gleichen Zeitraum von 37 auf 736 gestiegen ist.
Aufnahme von Golf-Kooperationsrat in den Vergleichsindex
Das Wachstum innerhalb des Schwellenländer-Anleiheuniversums beschleunigte sich am 31. Januar weiter, als der Kooperationsrat der Arabischen Staaten des Golfes (kurz GCC) offiziell den JP Morgan Emerging-Market-Anleiheindizes beitrat. Die Einbeziehung von Staatsanleihen und quasi-staatlichen Anleihen aus Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain bringt einen erheblichen Teil der hoch bewerteten Vermögenswerte in das Anleiheuniversum. Nach Abschluss der GCC-Einführungsphase im September 2019 werden rund zwei Drittel der Schwellenländer ein Investment-Grade-Rating erhalten.
Die Verschiebung in Richtung Investment-Grade kann – angesichts der allgemeinen Auffassung, dass Schwellenländeranleihen eine Anlageklasse mit höherem Beta sind – für viele Investoren überraschend sein und zeigt, inwieweit die Anlegerwahrnehmung nicht mit der Realität Schritt gehalten hat. Diese Lücke hat zu einer strukturellen Fehlbewertung von Vermögenswerten aus Schwellenländern geführt und kann Investoren attraktive, stabile Anlagemöglichkeiten bieten. Indem sie das vielfältige Universum der Vermögenswerte voll ausschöpfen, können aktive Manager das Beta von Anleihen anpassen, um einen sanfteren Weg mit starken risikobereinigten Renditen zu ermöglichen.
Die zunehmende Kreditqualität verstärkt auch die Argumentation, dass Schwellenländeranleihen zum strukturellen Bestand der Kundenportfolios gehören sollten, anstelle eine lediglich taktische Position darzustellen.
Allerdings sind Selektivität und Anlagedisziplin nach wie vor entscheidend. Während die überwiegende Mehrheit der höher (mit A, BBB und BB) bewerteten Länder im Schwellenländeruniversum auf längere Sicht stabile oder sich verbessernde Kreditkennzahlen aufweisen, haben sich die Länder mit einem Single-B-Rating insgesamt verschlechtert. Die geografische Streuung zwischen den Single-B-Titeln ist jedoch beträchtlich, weshalb die Länderauswahl der Schlüssel zur Erzielung attraktiver absoluter und relativer Renditen in diesem Teil des Schwellenländeruniversums ist.
Konjunktureller Rückenwind
Auch das makroökonomische Umfeld sieht vielversprechend aus. Die Ölexporteure profitieren sowohl von einem Anstieg des Rohölpreises als auch, im Falle der GCC-Länder, von Diversifizierungsbemühungen weg von einer übermäßigen Abhängigkeit von Petrochemikalien hin zu einer offeneren und diversifizierteren Wirtschaft. Der Ölpreis stieg seit Jahresbeginn um 40 Prozent, wobei das Rohöl der Sorte Brent über 70 US-Dollar pro Barrel lag. Zahlreiche Anzeichen, darunter der Konflikt in Libyen, die wirtschaftliche und politische Implosion Venezuelas und strengere US-Sanktionen gegen den Iran, die am 2. Mai in Kraft traten, deuten darauf hin, dass die Preise noch weiter steigen werden.
Für weiteren Rückenwind sorgt die sich ändernde Rhetorik der Zentralbank. In ihrer letzten Sitzung im März revidierte die US-Notenbank ihren bisherigen Plan für zwei Zinserhöhungen im Jahr 2019. Die Mehrheit der Mitglieder des Offenmarktausschusses erwartet nun keine Erhöhungen im Jahr 2019 und nur noch eine im Jahr 2020. Der nachgiebige Ton spiegelt sich an anderer Stelle wider. So deutete die Europäische Zentralbank an, die Zinsen bis mindestens zum Jahresende unangetastet zu lassen. China, Kanada, Japan und Großbritannien haben ebenfalls eine entgegenkommende Haltung signalisiert.
Starke technische Faktoren
Auch die technischen Faktoren sind positiv. Bislang gab es in diesem Jahr starke Zuflüsse mit einer Ausrichtung auf Hartwährungsbestände. Daten von JP Morgan zeigten, dass im ersten Quartal fast 23 Milliarden US-Dollar in Anleihenfonds von Schwellenländern flossen, davon allein 10,2 Milliarden US-Dollar im Januar; fast zwei Drittel des Betrags, der im gesamten Jahr 2018 verzeichnet wurde.7 Infolgedessen haben sich Staatsanleihen in Hartwährungen seit Jahresbeginn stark entwickelt und lagen Ende April bei über 7 Prozent.8
Sorgfalt ist angezeigt
Obwohl die Fundamentaldaten stabil sind, bleiben die Herausforderungen bestehen. Vorsicht ist geboten bei ölimportierenden Märkten wie der Türkei, Indonesien und Indien, die zur Finanzierung ihres Leistungsbilanzdefizits ebenfalls stark auf externe Mittel angewiesen sind, da der handelsgewichtete Dollar sich fast auf dem teuersten Stand seit 20 Jahren befindet.
Weitere Risiken sind die synchronisierte Abschwächung des globalen Wachstums und die anhaltende Gefahr von Handelsgefechten, insbesondere zwischen den USA und China. Im letzten Jahr führten wirtschaftliche Spannungen, eine Verlangsamung in den wichtigsten Volkswirtschaften und finanzielle Volatilität zu einem Rückgang des Handelswachstums auf drei Prozent gegenüber den von der Welthandelsorganisation prognostizierten 3,9 Prozent. Gegenüber ihrer bisherigen Schätzung von drei Prozent prognostiziert die Welthandelsorganisation für 2019 ein Wachstum von 2,6 Prozent9 und warnt auch davor, dass der Welthandel in den nächsten zwei Jahren mit „starken Gegenwinden“ konfrontiert ist.
Dennoch sieht die Renditeprämie der Schwellenländer überzeugend aus, da sie, selbst wenn die Wirtschaftswachstumsraten moderat sind, weiterhin die der Industrieländer übertreffen dürften. Und während es zweifellos weiterhin eine höhere Volatilität aufweist als die Konkurrenz aus den Industrieländern, hat das Anleihenuniversum der Schwellenländer aufgrund einer wachsenden inländischen Anlegerbasis und einer beträchtlichen ausländischen institutionellen Beteiligung, die eine geringere Fluchtneigung aufweist, eine deutliche Reifung erfahren.
Angesichts des positiven makroökonomischen Umfelds, des starken Rückenwinds aufgrund technischer Faktoren und der zunehmenden Verschiebung in Richtung Investment Grade täten Investoren gut daran, sich von ihren langjährigen und tief verwurzelten Annahmen zu lösen. Diejenigen, die es schaffen, ihr Denken neu auszurichten, werden vielleicht nicht nur zutreffender informiert, sondern auch von der wahren Natur dieser missverstandenen Anlageklasse überrascht sein.
Quellen
- Referenceshttps://www.imf.org/external/datamapper/PPPSH@WEO/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD
- https://www.imf.org/external/datamapper/LP@WEO/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD
- https://siteresources.worldbank.org/EXTABCDE/Resources/7455676-1292528456380/7626791-1303141641402/7878676-1306699356046/Parallel-Sesssion-6-Homi-Kharas.pdf
- https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2019/03/28/world-economic-outlook-april-2019
- https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2019/03/28/world-economic-outlook-april-2019
- Emerging Markets Bond Index (EMBI®) Monitor March 2019 Month-End
- https://am.jpmorgan.com/de/institutional/library/weekly-bond-bulletin
- J.P. Morgan Asset Management; data as of 9 April 2019: https://am.jpmorgan.com/de/institutional/library/weekly-bond-bulletin
- https://www.wto.org/english/news_e/pres19_e/pr837_e.htm