Der verheerende Ausbruch des Coronavirus hat eine erneute Diskussion über „Schwarzer Schwan“ ausgelöst: seltene, unerwartete Ereignisse, die in Märkten und Volkswirtschaften verheerende Schäden anrichten. Aber ist COVID-19 wirklich ein Schwarzer Schwan? Und inwieweit können Anleger sicherstellen, dass ihre Portfolios gegenüber plötzlichen Schocks dieser Art widerstandsfähig sind?
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„Es ist sehr wahrscheinlich, dass zu unseren Lebzeiten eine große und tödliche Pandemie auftreten wird“ – Bill Gates, 2018.
Gates machte diese Bemerkung in einer Rede vor der Massachusetts Medical Society im Jahr 2018, zwei Jahre bevor sich die als COVID-19 bekannte Grippevariante über den ganzen Planeten ausbreitete, Tausende tötete, zu Geschäftsschließungen führte und die Finanzmärkte zerrüttete. Zuvor hatte er in einem Ted Talk 2015, in dem die breiteren Risiken eines solchen Ereignisses aufgezeigt wurden, davor gewarnt, dass „wir nicht vorbereitet sind“ auf eine weltweite Pandemie.
Es ist für Anleger fast unmöglich, das Risiko selten auftretender spezifischer Ereignisse in das tägliche Portfoliomanagement zu integrieren
Ob die Märkte die Auswirkungen des Coronavirus-Ausbruchs hätten vorhersehen müssen, ist eine andere Frage. Angesichts der breiteren Wettbewerbsdynamik im Finanzbereich ist es für Anleger fast unmöglich, das Risiko selten auftretender spezifischer Ereignisse in das tägliche Portfoliomanagement zu integrieren. Dies heißt aber nicht, dass sie nicht auf solche Krisen vorbereitet sein sollten.
„Es wäre vermessen zu fordern, dass ein Vermögensverwalter ein Forschungsteam hätte haben müssen, das gewusst hätte, dass ein Virus kommen und die Märkte in diesem Ausmaß belasten würde“, so Euan Munro, CEO von Aviva Investors. „Weitaus weniger verzeihlich wäre es, kein Portfolio zu haben, das eine gewisse allgemeine Widerstandsfähigkeit gegenüber extrem disruptiven Ereignissen aufweist – egal, ob es sich dabei um den Zusammenbruch eines Bankensystems, eine Gesundheitskrise oder ein geopolitisches Problem handelt.“
Schwarze Schwäne
Angesichts solcher Marktschocks greifen Kommentatoren oft zur Metapher des „Schwarzen Schwans“, die aus dem gleichnamigen Buch des Wissenschaftlers und ehemaligen Derivatehändlers Nassim Nicholas Taleb von 2007 stammt.
Viele Marktteilnehmer waren sich im Vorfeld der Liquiditätskrise der lauernden Schwachstellen bei den Krediten bewusst.
Obwohl die Vorahnung in Talebs Buch unheimlich erschien, als kurz nach seiner Veröffentlichung die globale Finanzkrise eintrat, passte das Ereignis selbst nur schlecht zu seinen Kriterien. Obwohl die Krise „extreme Auswirkungen“ hatte, trifft die Aussage, dass vor dem Eintreten nichts auf die Möglichkeit eines finanziellen Zusammenbruchs hinwies, nicht zu. Viele Marktteilnehmer waren sich im Vorfeld der Liquiditätskrise der lauernden Schwachstellen bei den Krediten bewusst.
„Es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen erwarteten und unerwarteten Ursachen der Volatilität“, so Munro. „Einige von uns sahen den Preis der Unternehmensanleihen und die Explosion der strukturierten Kredite lange bevor die Blase Ende 2007 zu platzen begann, und meinten, es gebe guten Grund zur Annahme, dass die Kredite im Mittelpunkt der nächsten Krise stehen würden.“
Der Ausbruch des Coronavirus ist ein Ereignis anderer Art – ein externer Schock, der nicht vom Finanzsystem ausgeht. Dennoch lag er nicht „außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen“, ebenso wenig wie die Finanzkrise. SARS, die H1N1-Pandemie (Schweinegrippe) von 2009 und die Ebola-Epidemie von 2014 in Westafrika waren allesamt Vorboten von COVID-19.
Graue Nashörner
Wenn COVID-19 also kein Schwarzer Schwan ist, wie sollten wir dann das damit verbundene Risiko einschätzen? Die Autorin Michele Wucker argumentiert, dass es sich hier um ein ganz anderes Tier handelt: ein „graues Nashorn“. Zu dieser Risikokategorie gehören „sehr wahrscheinliche, mit wesentlichen Auswirkungen verbundene, jedoch vernachlässigte Bedrohungen“, z. B. Versagen der Cybersicherheit, geopolitische Konflikte und Klimawandel. Nach Ansicht von Wucker haben es Politiker und Unternehmen weltweit versäumt, für solche Gefahren vorzusorgen.1
Die Plötzlichkeit und Schwere des Coronavirus-Ausbruchs wäre selbst für die am besten geführten Unternehmen schwer vorhersehbar gewesen
Dennoch wäre die Plötzlichkeit und Schwere des Coronavirus-Ausbruchs selbst für die am besten geführten Unternehmen schwer vorhersehbar gewesen. „Nur wenige Menschen, zumindest außerhalb der Gruppe der epidemiologischen Experten, hätten sich eine Welt vorstellen können, in der die räumliche Distanzierung und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in so kurzer Zeit Wirklichkeit werden würden“, so Mark Robertson, Leiter der Multi-Strategy-Fonds bei Aviva Investors. „Außerdem war die Entscheidung der saudischen Ölproduzenten, in einen Preiskrieg einzutreten, das Letzte, was ein ohnehin schon fragiler Markt brauchte. Wäre der Ausbruch auf China begrenzt geblieben, wäre es nicht annähernd zu dem Schaden für den globalen Handel, den Reiseverkehr und die Märkte gekommen, den wir derzeit erleben.“
Eine weitere Überlegung ist, dass Anleger ihre Entscheidungen zeitlich sorgfältig planen müssen. Ein Portfoliomanager, der 2018 oder noch schlimmer 2015, die Rede von Gates gehört und in Erwartung einer bevorstehenden pandemiebedingten Marktstörung seinen Fonds auf eine defensive Ausrichtung umgeschichtet hätte, hätte über Jahre hinweg weit überdurchschnittliche Renditen verpasst, da die Aktien in diesem Zeitraum stark gestiegen sind.
Finanzkrisen werden immer schädlicher, weil die Welt physisch und technologisch stärker miteinander verbunden ist als je zuvor
Globale Vernetzung
Laut Taleb werden Finanzkrisen immer schädlicher, weil die Welt physisch und technologisch stärker miteinander verbunden ist als je zuvor.
Ein gutes Beispiel ist die Komplexität der Lieferkette für ein Produkt wie das iPhone von Apple, in die koreanische High-End-Chiphersteller, chinesische Fertigungsstätten und Tausende von kleinen, spezialisierten Unternehmen, die verschiedene Komponenten zum Endprodukt beisteuern, eingebunden sind. Eine einzige Unterbrechung an einem beliebigen Punkt dieses hocheffizienten und fein abgestimmten Prozesses kann zu Verzögerungen, Lieferbeschränkungen und Preiserhöhungen im weiteren Verlauf führen.
Die Pandemie hat gezeigt, wie sehr sich moderne Lieferketten auf bestimmte Schlüsselpunkte konzentrieren. Zentralchina, wo COVID-19 entstanden ist, beherbergt eine Reihe von Produktionsfirmen, darunter Hon Hai, den Hauptlieferanten von Apple.
Die Lieferketten sind heutzutage so integriert und effizient, dass es weniger Flexibilität gibt, wenn in einem Teil der Welt ein Problem auftaucht
„Die Lieferketten sind heutzutage so integriert und effizient, dass es weniger Flexibilität gibt, wenn in einem Teil der Welt ein Problem auftaucht“, so Alistair Way, Head of Emerging Market Equities bei Aviva Investors. „Es gibt keine einfache Möglichkeit für Apple, die iPhone-Produktion von Hon Hai an einen anderen Ort zu verlagern, weil dieses Unternehmen so effizient mit maßgeschneiderten Einrichtungen ausgestattet ist.“
Mehrere Strategien
In ihrem neuen Buch Radical Uncertainty: Decision-making for an unknowable future argumentieren der Ökonom John Kay und der ehemalige Chef der Bank of England Mervyn King, dass der beste Weg für Anleger, in einer so unvorhersehbaren und stark vernetzten Welt stabil und flexibel zu bleiben, die Planung „alternativer Zukunftsszenarien“ in Form der Annahme „mehrerer Strategien“ ist.2
Ihr Vorbild ist Pierre Wack, ein ehemaliger Journalist, der in den 1960er Jahren eine Führungsposition beim Ölkonzern Shell innehatte. Wack leistete Pionierarbeit bei der Anwendung der Planung mehrerer Szenarien und stellte damit sicher, dass das Unternehmen auf eine Reihe möglicher Entwicklungen vorbereitet war.3
Dieser Ansatz hat eine Analogie in der Finanzwelt, wo eine breite Diversifizierung, die den Aufbau eines Portfolios beinhaltet, das stabil und widerstandsfähig gegenüber unvorhersehbaren Ereignissen ist, eine Schlüsselrolle spielt. Diese Methode der Portfoliokonstruktion basiert nicht auf der präzisen Vorhersage von Ereignissen, sondern auf dem Einbau von Schutzmaßnahmen gegen breite Kategorien vorhersehbarer Risiken. Nehmen wir das Beispiel der Lieferkette: Die Anleger hätten den Ausbruch eines neuen Grippestammes nicht vorhersehen müssen, um die Anfälligkeit der komplexen Smartphone-Lieferkette bei einer einzigen Katastrophe erkennen zu können.
Der Aufbau eines Portfolios, das stabil und widerstandsfähig gegenüber unvorhersehbaren Ereignissen ist, spielt eine Schlüsselrolle
Auch Teamarbeit ist für den Aufbau von Widerstandsfähigkeit entscheidend. Dies liegt nicht nur daran, dass Portfolios, die aus unkorrelierten Vermögenswerten und mehreren Strategien bestehen, in einer Krise tendenziell besser abschneiden, sondern auch daran, dass Anleger, die über die verschiedenen Anlageklassen hinweg zusammenarbeiten, ein vollständigeres Bild davon erhalten, wie sich Unternehmen, Märkte und Sektoren gegenseitig beeinflussen.
Der Aufbau von Portfolios, die unter einer Vielzahl von Szenarien widerstandsfähig bleiben können, bedeutet zwangsläufig, Zeit und Ressourcen für die Vorbereitung auf die Auswirkungen von Ereignissen aufzubringen, die womöglich nie eintreten. Positiv ist jedoch zu vermerken, dass auf diese Weise aufgebaute Portfolios in Zeiten der Marktvolatilität von den stärksten Verlusten isoliert sein sollten. Dies schützt die Anleger vor jener Art von Panik, die zu irrationalen Entscheidungen führt.
Graues Nashorn, Schwarzer Schwan oder was auch immer: „Wie Anleger aus einer Krise herauskommen, ist keine Frage des Glücks, sondern des Urteilsvermögens“, so Munro. „Ob man die Ursache der Volatilität vorhersieht oder nicht, gut diversifizierte Portfolios werden Krisen überstehen.“