Cass R. Sunstein, Professor an der Harvard University und Gründer und Direktor des Programms für Verhaltensökonomie und öffentliche Ordnung an der Harvard Law School spricht mit AIQ über die Macht der sozialen Konformität und darüber, was die Verhaltensökonomie uns über die Bekämpfung des Klimawandels lehren kann.
Der Rechtswissenschaftler Sunstein, der unter der Regierung Obama als „Regulatory“-Chef tätig war, ist vor allem für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie bekannt. Gemeinsam mit Richard Thaler verfasste er den Bestseller „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“. Seine Forschungen über die psychologischen und sozialen Einflüsse auf die Entscheidungsfindung haben die politischen Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels beeinflusst.

Sie schreiben darüber, wie sich durch die soziale Anpassung bestimmte Informationen oder Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe wie eine Kaskade verbreiten. Wie funktioniert das?
Die meisten von uns haben keine direkten oder persönlichen Kenntnisse über eine Vielzahl von Dingen, die für unser Überleben relevant sind. Kürzlich reiste ich zum Beispiel an einen Ort, an dem ich noch nie gewesen war. Als mir zugesichert wurde, dass dort in den Gewässern keine Haie leben, ging ich schwimmen. Ich konnte nicht wissen, ob dies zutraf, ich habe mich nur auf andere verlassen, die mir vertrauenswürdig erschienen.
Viele Dinge, die wir glauben, sind nur ein Produkt dessen, was von Menschen gesagt wurde, die wir für glaubwürdig halten. Und wenn viele Leute etwas behaupten, würden wir eine Menge privater Informationen brauchen, um die Grundlage für die Annahme zu schaffen, dass sie sich irren. Dieses einfache Beispiel zeigt, wie zehn, tausend oder manchmal Millionen von Menschen von etwas überzeugt werden können, nur weil sie sich auf die Überzeugungen anderer verlassen und einen sehr lauten Chor bilden. Die Menschen stimmen in den Chor ein, indem sie sich anpassen.
Können Sie ein Beispiel für den Kaskadeneffekt nennen?
Ich werde ein Beispiel anführen, das mit einer gewissen Kontroverse verbunden ist, nämlich gentechnisch veränderte Lebensmittel. Der wissenschaftliche Konsens – und es gibt keinen Grund, diesen für falsch zu halten – lautet, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel keine Gesundheitsrisiken mit sich bringen. Es besteht auch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Umweltrisiken sehr begrenzt sind, obwohl einige Leute glauben, dass ein sehr geringes Risiko für einen ernsthaften ökologischen Schaden besteht. Dessen ungeachtet gibt es in den demokratischen Ländern viele kluge und gebildete Menschen, die glauben, dass sie krank werden, wenn sie Lebensmittel essen, die genetisch veränderte Organismen enthalten. Dieser allgegenwärtige Glaube ist das Produkt einer Kaskade. Die Menschen folgen den Signalen, die von maßgeblichen anderen Menschen ausgesandt werden, denen sie vertrauen, zum Beispiel ihren Nachbarn oder Freunden.
Stellt der Klimawandel hier ein besonderes Problem dar, da die entsprechenden Maßnahmen davon abhängen, dass die Menschen auf die nüchterne und technische Disziplin der Klimawissenschaft vertrauen?
Der Klimawandel ist das größte „Konformitätsproblem“, mit dem die Welt heute konfrontiert ist. Wir versuchen also, es ein wenig zu entwirren. Die Vorstellung, dass menschliche Aktivitäten zur Erwärmung der Erde führen, entspricht nicht unserem Instinkt. Wir sind Produkte der Evolution. Unser evolutionäres Erbe ist für bestimmte Arten von Gefahren – zum Beispiel Löwen und Tiger – gut geeignet, nicht aber für das Problem des Klimawandels.
Hinzu kommen einige Faktoren, die das Problem verschlimmern. Eines davon ist, dass wir gemeinsam handeln müssen. Wenn ein Einzelner etwas unternimmt, um seine Treibhausgasemissionen zu reduzieren, sind die Auswirkungen auf die globale Erwärmung sehr bescheiden. Die Menschen haben das verstanden. Um dieses Problem zu überwinden bräuchte man eine soziale Norm, die besagt: „Das ist nicht unsere Art, wir werden nicht unnötig viel Energie verbrauchen und diese nicht aus Kohle, sondern aus Sonne oder Wind erzeugen.“
Hinzu kommt der Konformitätsdruck. Wenn Ihr Freundeskreis oder vertraute Personen glauben, dass der Klimawandel kein großes Problem ist, dass er Sie nicht direkt betrifft oder dass andere Probleme wichtiger sind, werden Sie das Gleiche denken. Und das ist das Hauptproblem. Aufgrund der Art und Weise, wie der menschliche Verstand arbeitet und wie gesellschaftliche Einflüsse wirken, ist es äußerst schwierig, die zur Bekämpfung des Klimawandels notwendigen Geschütze aufzufahren.
Könnte Ihrer Theorie zufolge eine gesellschaftliche Kaskade zu Verhaltensänderungen in dem Maße führen, wie es nötig ist, um den Klimawandel positiv zu beeinflussen?
Manchmal führen Kaskaden auch in eine Richtung, die sich als richtig erweist. Die inzwischen weit verbreitete Erkenntnis, dass Kohlekraftwerke ernsthafte Gesundheitsrisiken mit sich bringen, trifft zu. Es ist aber auch das Produkt einer Kaskade, insofern als viele Menschen der Ansicht von Experten vertraut haben, dass Feinstaub gefährlich ist und aus Kohlekraftwerken stammt. In diesen wichtigen Fragen der öffentlichen Ordnung wird sich die Führung eines Landes nach der Entstehung oder dem Ausbleiben einer großen Kaskade richten.
Wie könnte dies im Bereich des Klimawandels funktionieren?
Vor nicht allzu langer Zeit galt die Zerstörung der Ozonschicht als ein sehr schwierig zu lösendes Problem. Viele Menschen dachten darüber so, wie die Klimaskeptiker heute über den Klimawandel denken.
Aber das hat sich fast auf einen Schlag geändert. Margaret Thatcher und Ronald Reagan führten den Vorstoß für das Verbot ozonschädigender Chemikalien an. Der Grund für diesen Vorstoß war eine Kaskade, in der Bürger und Politiker, Experten und Laien auf der Grundlage gegenseitiger Signale zum Schluss kamen, dass er sich lohnen würde. Was sie antrieb, war eine Kombination aus Aktivismus und technischem Fachwissen, die auf inspirierende Weise Hand in Hand gingen. Das Problem des Ozonabbaus ist heute fast gelöst – im Vergleich dazu, wie es Anfang der 1980er Jahre aussah. Etwas Ähnliches könnte auch beim Klimawandel geschehen.
Ihr Buch Nudge hat die Aufmerksamkeit auf die Macht von verhaltensgesteuerten Lösungen für soziale und wirtschaftliche Probleme gelenkt. Könnten „Anstöße“ dazu beitragen, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen?
Absolut. Beispielsweise kann die automatische Aufnahme in Tarife für grüne Energie sehr viel bewegen, wenn es um die Nutzung grüner Energiequellen geht. Wir kennen das aus Deutschland, das im Bereich Klimaschutz eine Vorreiterrolle in der Welt einnimmt. Dort bietet eine Reihe von Energieunternehmen den Menschen durch die automatische Aufnahme in Tarife für grüne Energie einen Anstoß zur Nutzung sauberer Energie. Die Menschen haben die Möglichkeit, aus diesen Tarifen auszusteigen und sich für Strom aus Kohlekraftwerken zu entscheiden. Die Daten zeigen jedoch, dass sie das nicht tun, auch wenn der „grüne“ Strom etwas teurer ist. Wenn das in Deutschland möglich ist, kann es überall auf der Welt möglich sein.
Es gibt noch andere kleine Dinge, die zusammengenommen einen großen Unterschied machen können. Wenn Hotels darauf hinweisen, dass Ihre Handtücher oder Laken nicht jeden Tag gewaschen werden, es sei denn, Sie bitten darum. Das ist ein Anstoß. Die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, die durch solche Maßnahmen erreicht wird, ist nicht unbedeutend, da sich mittlerweile eine große Anzahl von Hotels daran beteiligt. Ein großer Teil des Problems in Bezug auf die Kohlenstoffemissionen entsteht durch das Verhalten der einzelnen Verbraucher, das sich in großen Bevölkerungsgruppen summiert. Wenn wir jeden Einzelnen dazu bewegen können, seine Klimabilanz in erheblichem Umfang zu verbessern, werden wir deutliche Fortschritte dabei erreichen, die Zerstörung unseres Planeten zu verringern.
Einzelne Maßnahmen reichen nicht aus. Wenn man aber die Anzahl der anwendbaren Maßnahmen zusammenfasst, beispielsweise der Vorschriften zur Energieeffizienz, die dazu führen können, den Energieverbrauch von Kühlschränken, Mikrowellengeräten oder Waschmaschinen und Trocknern massiv zu reduzieren, und diese mit Vorschriften für eine drastische Verringerung der Emissionen von Kraftfahrzeugen sowie mit Beschränkungen für die Emissionen aus Kohlekraftwerken verbindet, können enorme Fortschritte erzielt werden.