Die steigende Inflation lässt befürchten, dass die Weltwirtschaft auf eine Rezession zusteuert. Die Meinungen, ob uns eine neue Stagflation bevorsteht, gehen auseinander. Nach Ansicht von Michael Grady und Peter Fitzgerald scheinen jedoch Wachstum und Inflation mittelfristig aus dem Gleichgewicht zu geraten – mit erheblichen Folgen für die Vermögenspreise.
Dieser Artikel widmet sich folgenden Fragen:
- Warum wir uns möglicherweise in einem neuen inflationären Umfeld befinden
- Warum jede Zentralbank anders darauf reagieren wird
- Welche Auswirkungen dies für die Vermögenspreise hat
Nun, da die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) und viele andere Zentralbanken die geldpolitischen Zügel zur Bekämpfung der galoppierenden Inflation zügig anziehen, wächst die Sorge vor einer bevorstehenden Weltwirtschaftskrise.
Den Warnungen zweier ehemaliger Entscheidungsträger der FED zufolge werden die US-Zinssteigerungen stärker als erwartet ausfallen müssen – mit einer Rezession als mögliches Ergebnis. Die Notenbank werde laut Richard Clarida, der bis Januar Vize von Fed-Chef Jerome Powell war, die Zinsen deutlich in den „restriktiven Bereich“ erhöhen müssen, um das Wirtschaftswachstum zu bremsen und die Inflation einzudämmen. Nur Tage zuvor erklärte Randal Quarles, eine Rezession sei nun „wahrscheinlich“.1 Er war bis Ende vergangenen Jahres bei der Fed für die Bankenaufsicht zuständig.
Nicht einmal einen Monat vor diesen Aussagen hatte der Internationale Währungsfonds noch mitgeteilt, dass eine ausgedehnte Abkühlung in China erhebliche globale Auswirkungen haben würde. Zeitgleich mit dieser Warnung kürzte der Währungsfonds seine Prognose für das Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt auf 4,4 Prozent, was deutlich unter dem Ziel Pekings von rund 5,5 Prozent liegt, denn die Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung zwingt weite Teile des Landes in den Lockdown, wodurch die Produktion gestört und die Konsumausgaben gedrückt werden.2
Auch in Europa scheint das Rezessionsrisiko angesichts der Belastung der Haushalte durch steigende Lebensmittel- und Energiepreise zu steigen, wenngleich die geldpolitischen Entscheidungsträger dort weniger unter dem Druck stehen, die Zinsen erhöhen zu müssen. „Wir sehen eine große Rezession auf uns zukommen“, sagte Stefan Hartung, Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH, am 5. Mai.3
Es überrascht also nicht, dass immer mehr Schlagzeilen sogar die unerwünschte Rückkehr der Stagflation heraufbeschwören – ein lange vergessenes wirtschaftliches Phänomen. Auch wenn es für diesen Begriff keine allgemeingültige Definition gibt, hält Michael Grady, Head of Investment Strategy und Chefökonom bei Aviva Investors, Presseberichte für schwarzseherisch, wonach führenden Volkswirtschaften wahrscheinlich die Rückkehr einer hartnäckigen zweistelligen Inflation in Kombination mit einer konjunkturellen Stagnation oder Rezession droht.
Eine unwahrscheinliche Entwicklung
„Eine solche Entwicklung ist zwar nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich, obgleich mit einem schwächeren Wirtschaftswachstum und einer höheren Inflation zu rechnen ist, als noch zu Jahresbeginn wahrscheinlich schien“, so Grady.
Er verweist darauf, dass die Kombination aus einer schwächeren Produktion und stark steigenden Preisen äußerst selten sei und es in der Vergangenheit dafür nur ein Beispiel gebe, nämlich die 1970er Jahre. Damals trieben zwei Ölpreisschocks 1973 und 1979 die Inflation massiv in die Höhe. Die US-Wirtschaft rutschte nach beiden Schocks in die Rezession – und mit ihr auch weite Teile der Welt.
Für den jüngsten Inflationsanstieg ist eine Reihe von Versorgungsengpässen verantwortlich
Wie in diesen historischen Fällen auch, ist eine Reihe von Versorgungsengpässen für den jüngsten Anstieg der Inflation verantwortlich. Diese Engpässe wurden zunächst von der Pandemie und später durch den Ukraine-Krieg und die Null-Covid-Strategie Chinas verursacht. Solange jedoch keine weiteren Versorgungsengpässe dieser Art auftreten, dürfte die Inflation nach Einschätzung von Grady weitaus kürzer andauern als in den 1970er Jahren.
In den letzten vier Jahrzehnten wurden die Arbeitsmärkte der meisten Industrieländer aufgrund der schwindenden Macht der Gewerkschaften deutlich flexibler. Die Globalisierung befindet sich zwar auf dem Rückzug, doch die Gefahr einer Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland oder ihrer Automatisierung ist nicht gebannt. Folglich besteht im Angesicht einer schwächeren Konjunktur weitaus weniger Spielraum für weitere Lohnsteigerungen.
Auch die im Vergleich zu den 1970er Jahren größere Unabhängigkeit der Zentralbanken darf daran zweifeln lassen, dass sich die Inflation festsetzen wird. Wenngleich manche Zentralbanken, allen voran die Fed, zögerlich auf die drohende Inflation reagiert haben, kann man davon ausgehen, dass sie die nötigen Maßnahmen ergreifen werden, um der Inflation Herr zu werden.
Damit soll keineswegs gesagt werden, dass die Inflation nicht eine wachsende Bedrohung darstellt, die die Zentralbanken in eine wenig beneidenswerte Lage bringt. Ihr Dilemma ist, dass ein rascher Inflationsanstieg die real verfügbaren Einkommen massiv belastet. Somit wird letztlich die Verbrauchernachfrage geschwächt und das Wirtschaftswachstum lässt nach.
Eine Gratwanderung
Der britische Zentralbankchef Andrew Bailey sagte im April, „wir bewegen uns auf einem sehr schmalen Grat zwischen Inflationsbekämpfung [...] und dem Risiko, damit eine Rezession zu verursachen“.4
„Die geldpolitischen Reaktionen werden unterschiedlich ausfallen“
Wenngleich kaum ein Land von der steigenden Inflation verschont bleibt, haben die Gesamtinflationszahlen doch ganz unterschiedliche Hintergründe. Daher werden die Reaktionen der geldpolitischen Entscheidungsträger unterschiedlich ausfallen.
Unter den Industrieländern muss in den USA die Geldpolitik am stärksten gestrafft werden, da die Wirtschaft dort ihre maximale Kapazitätsauslastung offenbar erreicht oder beinahe erreicht hat. Die schnelle Schaffung von Arbeitsplätzen in den letzten beiden Jahren hat die Zahl der Arbeitslosen, die auf eine offene Stelle kommen, auf ein Rekordtief gedrückt (Abbildung 1).
Abbildung 1: Zahl der Arbeitslosen je offene Stelle, saisonal bereinigt
Quelle: US Bureau of Labour Statistics. Stand: 10. Mai 2022
Aufgrund der angespannten Arbeitsmarktlage können Arbeitnehmer auf den Inflationsanstieg mit höheren Gehaltsforderungen reagieren. So verzeichnet der US-Lohnkostenindex den stärksten Anstieg seit Beginn der Aufzeichnung (Abbildung 2).
Abbildung 2: Starker Anstieg der Lohnkosten in den USA
Hinweis: Jährliche Änderungsrate des monatlichen Lohnkostenindex (Employment Cost Index).
Quelle: US Bureau of Labour Statistics. Stand: 10. Mai 2022
All dies zeigt, warum die Inflationstreiber in den USA weit verbreitet sind. Andernorts trifft dieses Muster jedoch nicht zu. In Europa beispielsweise gibt es aufgrund der noch nicht voll ausgeschöpften Kapazitätsauslastung der Volkswirtschaften kaum Anzeichen einer Inflation, die über die kräftig ansteigenden Energie- und Lebensmittelpreise hinausgeht (Abbildung 3).
Abbildung 3: Zusammensetzung der Verbraucherpreisinflation seit Januar 2021 (in Prozent)
Quelle: Aviva Investors, Macrobond. Stand: Mai 2022
Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, sagte im April, dass zwar sowohl die USA als auch Europa Schwierigkeiten mit der Eindämmung der Inflation hätten, sie es aber auch mit einem unterschiedlichen Gegner („different beast“) zu tun hätten. So entfiele ein erheblicher Teil der Inflation in Europa auf die steigenden Energiekosten: „Wenn wir jetzt die Zinsen erhöhen, sinken dadurch nicht die Energiepreise“, so Lagarde.5
Selbst wenn eine erneute Stagflation wie in den 1970er Jahren unwahrscheinlich sein dürfte, ist Peter Fitzgerald, Chief Investment Officer, Multi-asset and Macro bei Aviva Investors, der Auffassung, dass es starke Argumente für eine weltweite Durchschnittsinflation gibt, die in den nächsten zehn Jahren deutlich höher ausfallen wird als im Jahrzehnt nach der weltweiten Finanzkrise und im darauffolgenden Jahrzehnt. Seiner Ansicht nach sollten Anleger ihre Portfolios auf eine Inflation ausrichten, die sowohl höher als auch volatiler ist, als man es bisher gewohnt war.
Geopolitische Spannungen könnten weltweite Lieferengpässe weiter verschärfen
Nach Ansicht von Fitzgerald werden sich die geopolitischen Spannungen eher verstärken als abschwächen. Das Resultat könnten weitere Turbulenzen in den globalen Lieferketten und ein anhaltender Wettlauf um immer knappere Ressourcen sein, was für preislichen Aufwärtsdruck und eine höhere Volatilität der Inflation sorgt. Diese inflationären Kräfte werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den weltweiten Bemühungen um CO₂-Neutralität noch verstärkt.
Die Preise von Nickel, Lithium und Kobalt steigen rapide – sie sind entscheidende Rohstoffe für Antriebsbatterien in der Elektromobilität. Da 11 Prozent des weltweiten Nickelangebots aus Russland kommen, ließ der russische Krieg gegen die Ukraine die Preise emporschnellen. Allerdings waren die Preise für diese Metalle wegen der weltweit steigenden Nachfrage und der überlasteten Lieferketten bereits zuvor kräftig angestiegen. Die Kosten der zur Herstellung einer Batterie mit 60 KWh Kapazität benötigten Menge der drei genannten Metalle beliefen sich Anfang März auf über 7.400 USD. Vor einem Jahr waren es laut des Batterieherstellers Farasis Energy noch 1.395 USD.6
„Es bestehen kaum Zweifel, dass die Energiewende aufgrund der Verknappung fossiler Brennstoffe inflationäre Auswirkungen hat, die nach unserer Einschätzung fortdauern werden“, so Fitzgerald.
Aufgrund der höheren Inflation könnte der „neutrale“ Zinssatz – also der Zinssatz bei Vollbeschäftigung und einer stabilen Inflation – insbesondere in den USA deutlich höher ausfallen, als es die Anleger gewohnt sind. Grady ist der Auffassung, dass der neutrale Zinssatz in den USA bei bis zu 3,5 Prozent liegen könnte.
Projektionen der Fed möglicherweise nicht aggressiv genug
Wenngleich der US-Anleihemarkt bereits einen starken Zinsanstieg über die nächsten 18 Monate einpreist, ist es wahrscheinlich, dass die Renditen weiter steigen werden, da die Geldpolitik möglicherweise noch aggressiver gestrafft werden muss, als die Fed derzeit vorsieht und der Markt es erwartet. Im starken Gegensatz zu Claridas Äußerung über die Notwendigkeit einer restriktiven Geldpolitik stehen die jüngsten „Dot Plot“-Projektionen der Fed, wonach die Entscheidungsträger der Notenbank mit Zinsen von höchstens rund 2,8 Prozent rechnen.7
Märkte werden mit quantitativer Straffung ringen müssen
Laut Fitzgerald werden nicht nur die Zinsen möglicherweise stärker steigen als aktuell eingepreist wird, sondern zudem die Märkte mit quantitativer Straffung ringen müssen. Die Fed beendet einen Teil ihrer außergewöhnlichen Corona-Konjunkturmaßnahmen und ist bereit, mit der Verkleinerung ihrer Bilanz zu beginnen. Dies ist eine weitgehend experimentelle Maßnahme, die den Druck auf US-Staatsanleihen weiter zu erhöhen droht.
Im Mai teilte die Notenbank mit, ihre Bilanz ab Juni jeden Monat um Staatsanleihen im Wert von bis zu 30 Mrd. USD verkleinern zu wollen. Ab September sollen es dann 60 Mrd. USD im Monat sein. Für einen Markt, der sich an die Unterstützung durch die Notenbank gewöhnt hat, bedeutet dies eine massive Umstellung. Die Fed kaufte 2020 Staatsanleihen im Volumen von rund 2,4 Bio. USD und tätigte 2021 weitere Ankäufe im Volumen von 960 Mrd. USD. Überraschenderweise kaufte sie sogar im ersten Quartal dieses Jahres noch Staatsanleihen auf.8
Wachstum und Inflation geraten aus dem Gleichgewicht
Es steht zu erwarten, dass der Kompromisses zwischen Wachstum und Inflation in vielen Industrieländern aus dem Gleichgewicht gerät – mit erheblichen Auswirkungen auf die Vermögenspreise. Laut Fitzgerald dürfte das AIMS Target Return-Portfolio von Aviva Investors von einem anhaltenden Rückgang der US-Anleihekurse profitieren.
Obwohl ein weiterer Anstieg der US-Renditen die Staatsanleihemärkte anderer Industriestaaten negativ beeinträchtigen dürfte, deutet die vergleichsweise schwache europäische Konjunktur darauf hin, dass die Anleihemärkte weniger anfällig sind.
In Aktien ist das Portfolio aufgrund der Kombination aus stark rückläufigem Wachstum, einer anhaltend hohen Inflation und einer strafferen Geldpolitik nur geringfügig direkt engagiert, stattdessen liegt der Schwerpunkt auf Relative-Value-Transaktionen.
Wirtschaftliche Aussichten der USA zwar besser als die Europas, Technologiesektor dürfte den US-Markt aber ausbremsen
Nach Einschätzung von Fitzgerald erscheinen die wirtschaftlichen Aussichten der USA zwar besser als die Europas, doch die hohe Gewichtung des Technologiesektors dürfte den US-Markt ausbremsen. GAngesichts der nach Ansicht des Investment-Teams negativen Aussichten hinsichtlich der US-Zinsentwicklung wurden Wachstumswerte im Portfolio zugunsten von Substanzwerten reduziert. So soll das Portfolio beispielsweise von der Einschätzung profitieren, dass Energieaktien weiterhin eine bessere Wertentwicklung als der breite Markt erzielen werden. Zudem favorisiert Fitzgerald im Vergleich zum jeweiligen breiteren Index europäische Banken und US-Gesundheitsunternehmen.
Neben dem Engagement in Energieaktien ist das Portfolio zudem stark in Gold und anderen Rohstoffen investiert, um vom anhaltenden Inflationsdruck zu profitieren.
„Auch wenn inzwischen sehr schnelle und erhebliche Zinserhöhungen eingepreist sind, dürfte dies kaum ausreichen – insbesondere angesichts der aus unserer Sicht fortdauernden Risiken, dass die Inflation weiter steigt. Der Markt preist dann einige Jahre im Voraus Zinssenkungen ein, was sich kaum erklären lässt“, so Fitzgerald.