Der große Rahmen
Der Gipfel ist bald erreicht
Die Weltwirtschaft wird sich 2024 voraussichtlich abkühlen, denn die Ziinserhöhungen werden auch dann noch Haushalte und Unternehmen belasten. Wir rechnen mit einem Rückgang des weltweiten Wachstums von drei Prozent im Jahr 2023 auf 2,5 Prozent.
In den Industrieländern dürfte das Wachstum deutlich unter dem Trendpfad liegen, auch wenn in den USA eine Rezession wahrscheinlich noch abgewendet werden kann. Während der Wohnimmobilienmarkt aufgrund der höheren Zinsen einen Wachstumsrückgang verzeichnet, sind die Konsumausgaben in den USA unverändert hoch und stimuliert die auf Technologie-Reshoring und Klimaziele ausgerichtete Industriepolitik der Regierung die Unternehmensinvestitionen.
In Europa und Großbritannien sieht es weniger rosig aus, hier liegt das Wachstum bereits jetzt unter dem Trend. Der Energiepreisschock von 2022 hat sich mittlerweile weitgehend durch das System gearbeitet. Bis die Zinserhöhungen voll durchschlagen und sich mit einem entsprechenden Negativeffekt bei Konsum, privatem Wohnungsbau und Unternehmensinvestitionen bemerkbar machen, wird es indes noch etwas dauern. Eine tiefe Rezession ist dennoch wohl nicht zu befürchten.
Nach dem größten Inflationsschock in den letzten dreißig Jahren haben die Notenbanken ihre Leitzinsen in den vergangenen 18 Monaten kräftig erhöht. Grund dafür war eine Kombination aus positiven Nachfrage- und negativen Angebotsfaktoren bei Rohstoffen, Industrieerzeugnissen und Dienstleistungen. Während die Gesamtinflation inzwischen rückläufig ist, verharrt die Kerninflation aufgrund des anhaltenden Preisauftriebs im Dienstleistungssektor auf einem hohen Niveau.
Dieser Inflationsdruck wird im kommenden Jahr wohl erst allmählich nachlassen. Gesamt- und Kerninflation dürften sich den Zielen der Notenbanken bis Ende 2024 deutlich annähern, aber in den meisten großen Volkswirtschaften weiterhin darüber liegen. Damit besteht die Gefahr, dass die Notenbanken die geldpolitischen Zügel stärker straffen müssen als erwartet.
Was hat dies für Implikationen für die Asset-Allokation?
Aktien
Nach den jüngsten Verlusten erscheinen Aktien im Vergleich zu anderen Anlageklassen derzeit attraktiv. Auf Basis bestimmter Kennzahlen erscheinen US-Aktien im historischen Vergleich teuer. Dies ist jedoch hauptsächlich auf die enormen Kurssteigerungen bei führenden Technologiewerten zurückzuführen. Die US-Wirtschaft läuft relativ rund. Davon sollten positive Impulse auf die Gewinnentwicklung im Jahr 2024 ausgehen. Daher sind US-Aktien vielleicht gar nicht so teuer wie es scheint.
Was die übrigen Industrieländer betrifft, so werden europäische und japanische Aktien, gemessen an den Gewinn-Multiples, deutlich unter ihrem historischen Durchschnitt gehandelt. Bei britischen Aktien beträgt der Bewertungsabschlag rund 16 Prozent.

Staatsanleihen
Trotz erheblicher Verluste seit Anfang 2022 ist das Marktumfeld für Staatsanleihen – zumindest kurz- bis mittelfristig – durch drei große Herausforderungen gekennzeichnet: Erstens dürfte der Inflationsdruck weiter anhalten, zweitens haben sich die Haushaltsdefizite in den letzten Jahren enorm ausgeweitet und drittens haben die Märkte mit der quantitative Straffung der Notenbanken zu kämpfen, die in rauen Mengen Staatsanleihen verkaufen, die sie seit der globalen Finanzkrise angekauft hatten.
Aufgrund der relativen Stärke der Wirtschaft und der Höhe des Haushaltsdefizits zählen die USA zu den Ländern, die vor den größten Herausforderungen stehen. Auch japanische Staatsanleihen sind angesichts der zu erwartenden geldpolitischen Straffung zur Inflationsbekämpfung nur begrenzt attraktiv. Staatsanleihen aus Großbritannien und Deutschland bieten vielleicht bessere Chancen, denn die Wirtschaft wächst in beiden Ländern nur langsam, während die Inflation stark rückläufig ist. Auch Staatspapiere aus Kanada und Australien könnten interessant sein, denn hier wird eine geldpolitische Lockerung deutlich weniger stark eingepreist als an anderen Märkten.

Unternehmensanleihen
Unternehmensanleihen stehen wir weitgehend neutral gegenüber. In diesem Segment bieten Hochzinsanleihen unseres Erachtens bessere Anlagechancen als Investment-Grade-Anleihen, die vergleichsweise teuer erscheinen. Wenn in den USA im kommenden Jahr eine Rezession abgewendet werden kann, sollten sich die Kurse von Hochzinsanleihen, die aktuell in der Nähe des in einer milden Rezession zu erwartenden Niveaus notieren, recht ordentlich entwickeln, zumal die meisten Unternehmen 2024 kaum Emissionsbedarf haben werden.

Die wichtigsten Anlagethemen
1. Scheitelpunkt Scheitelpunkt in der Zinsentwicklung bald erreicht
Die großen Notenbanken haben ihre Leitzinsen seit Ende 2021 massiv erhöht, um die Preisentwicklung wieder mit dem Inflationsziel in Einklang zu bringen. Eine Zinsstraffung in diesem Tempo und von solchem Ausmaß hat es bis jetzt nur ein einziges Mal gegeben, nämlich in den 1970er Jahren. Anders als damals waren die Zinsen bei Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 allerdings bereits auf null oder beinahe null gesenkt worden.
In den USA und Großbritannien liegen die Realzinsen (Nominalzinsen abzüglich erwartete Inflation) bei rund zwei Prozent und haben damit den höchsten Stand seit mehr als zehn Jahren erreicht. Die Mehrheit der Volkswirte hält dies für ausreichend, um das Wirtschaftswachstum unter den Trend zu drücken und die zugrundeliegende Inflation zu senken. Obwohl wir auch der Ansicht sind, dass die Notenbanken wahrscheinlich genug getan haben, besteht weiterhin ein Risiko, dass das die Zinsschraube noch etwas weiter angezogen werden muss. Wir gehen für 2024 von einem weiterhin erhöhten Zinsniveau aus.
2. Globale Fragmentierung
Ein Nachlassen der geopolitischen Spannungen ist derzeit nicht absehbar. Nach den Besuchen hochrangiger Vertreter der US-Regierung in China haben sich die Beziehungen des Landes zu den USA in den letzten Monat vielleicht verbessert, aber Washington ist nach wie vor fest entschlossen, die US-Wirtschaft von der chinesischen zu entkoppeln. Im August wurden Investitionen in bestimmte fortschrittliche Technologien der Volksrepublik von Präsident Biden per Dekret verboten oder meldepflichtig gemacht.
Die zunehmenden Spannungen zwischen Washington und Peking in den vergangenen Jahren schlagen sich schon jetzt deutlich in den grenzüberschreitenden Kapitalströmen nieder. Die ausländischen Direktinvestitionen in China sind im letzten Jahr drastisch gesunken und haben damit den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2005 erreicht (Abbildung 6). Ähnlich verhält es sich mit den Portfolioströmen, die sich umgekehrt haben. Es wird also mittlerweile Land aus dem Land abgezogen, insbesondere aus chinesischen Anleihen. Diese und andere globale geopolitische Spannungen, einschließlich der jüngsten Gewaltausbrüche im Gazastreifen und Israel, dürften den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr auch künftig beeinflussen. Insbesondere in ärmeren Ländern gefährdet dies die finanzielle Stabilität.
3. Renaissance der Industriepolitik
Seit ein paar Jahren erlebt die Industriepolitik eine Renaissance. In den USA und Europa werden enorme Mittel mobilisiert, um in bestimmten Technologiebereichen Unabhängigkeit zu sichern. Dies gilt insbesondere für Computerchips und grüne Technologien.
Diese Art von Industriepolitik hat auch eine Kehrseite. Die Förderung von nationalen Champions in bestimmten Branchen im Interesse der nationalen Sicherheit und Unabhängigkeit geht unter Umständen zu Lasten von Wachstum und Produktivität. Subventionierte Investitionen könnten inflationstreibend wirken.
Eine solche Politik hat ihren Preis und muss gesteuert werden, um eine nachhaltige Wirkung zu gewährleisten. Wahrscheinlich ist, dass sie die Zinsen und Anleiherenditen in die Höhe treibt, da die Notenbanken auf den drohenden Inflationsanstieg reagieren und die Regierungen sich zur Finanzierung dieser Industriepolitik stärker verschulden müssen.
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House View Q4 2023
Die Notenbanken der großen Industrieländer haben ihre Leitzinsen seit Ende 2021 massiv erhöht, um dem Nachfrageüberhang entgegenzuwirken und die Inflation wieder auf ihr Zwei-Prozent-Ziel abzusenken. Eine so schnelle und kräftige Zinsstraffung wie in den letzten zwei Jahren hat es bislang nur in den 1970er Jahren gegeben.
House View Q4 2023
Jennie Byun, Investment Director Multi-Asset and Macro, David Nowakowski, Senior Strategist Multi-Asset and Macro und Sotirios Nakos, Fund Manager, Multi-Asset & Macro, diskutieren in unserer neuesten Ausgabe des House View die aktuellen und künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen.

Über House View
Das House View-Dokument von Aviva Investors ist eine umfassende Zusammenstellung von Ansichten und Analysen der wichtigsten Anlageteams.
Das Dokument wird vierteljährlich von den Anlageexperten von Aviva Investors erstellt und vom Investment Strategy Team überwacht. Zweimal jährlich halten wir ein House View Forum ab, bei dem die wichtigsten Themen und Argumente vorgestellt, diskutiert und erörtert werden. Die Genese des House View ist ein Gemeinschaftsprojekt - allen Beteiligten sind die Schlüsselthemen und die wichtigsten Aspekte der Prognose bekannt. Jeder hat das Recht, sich zu beteiligen, und alle werden dazu ermuntert. Ziel ist es, sicherzustellen, dass sich alle Teilnehmer grundlegend mit den Gedankengängen der anderen Teilnehmer auseinandersetzen und zwischen den Teams ein breiter Konsens über die wichtigsten Aspekte des Berichts erreicht werden kann.
Das House View-Dokument dient vor allem zwei Zwecken: Erstens bietet seine Ausarbeitung einen umfassenden und zukunftsweisenden Rahmen für die Diskussion zwischen den Anlageteams. Zweitens bietet es uns die Möglichkeit, unsere Gedanken zu teilen und den Betroffenen die Gründe für unsere wirtschaftlichen Ansichten und Anlageentscheidungen zu erklären.
Nicht jeder wird mit allen Annahmen und Schlussfolgerungen einverstanden sein. Niemand kann die Zukunft hundertprozentig vorhersagen. Der Inhalt dieses Berichts stellt jedoch die beste kollektive Beurteilung des aktuellen und zukünftigen Anlageumfelds durch Aviva Investors dar.
House View-Autoren

Michael Grady
Head of Investment Strategy and Chief Economist

Stewart Robertson
Senior Economist (UK and Europe)
House View-Archive

House View Q3 2023

House View 2023 Outlook

House View Q4 2022

House View Q3 2022
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