ESG-Ratings sind sicherlich eine gute Ausgangsbasis für die Bewertung von Unternehmen. Optimieren lässt sich die Risiko- und Chancenanalyse aber durch intensives Research und den aktiven Dialog mit Unternehmen.

Lange Zeit herrschte unter Anlegern die Auffassung, sie müssten sich zwischen der Ausrichtung auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Environmental, Social and Governance, kurz: ESG) und einer guten Wertentwicklung entscheiden, so als ob das eine das andere ausschlösse. Tatsächlich aber sind Performance und ESG wie zwei verschiedene Schlüssel am selben Schlüsselbund, die beide die Tür zu attraktivem Wertpotenzial öffnen.
Performance und ESG sind wie zwei verschiedene Schlüssel am selben Schlüsselbund, die beide die Tür zu attraktivem Wertpotenzial öffnen.
„Am Markt verbreitet sich zunehmend die Erkenntnis, dass ESG-Performance und Finanzperformance positiv korrelieren und dass die Berücksichtigung von ESG-Kriterien nicht unbedingt Abstriche bei den Renditeerwartungen erfordert, sondern die Erträge im Gegenteil sogar steigern kann“, stellt Richard Butters, ESG-Analyst bei Aviva Investors, fest.
Allerdings folgen nicht alle ESG-Kennzahlen dem gleichen Schema. Während die einen Ratings mehrere Kriterien zu einem Gesamtbild zusammenfassen, berücksichtigen andere nur einen bestimmten Teilbereich. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, wendet jeder Rating-Anbieter eine andere Methode an, sodass man verschiedene Ratings, die eigentlich ein und das Gleiche messen sollen, kaum miteinander vergleichen kann.
Je nach Agentur werden unterschiedliche Kennzahlen herangezogen oder bestimmte Aspekte unterschiedlich gewichtet, weil sie für die Branche oder bestimmte Unternehmen vielleicht als besonders wichtig erachtet werden
„Als Beispiel: Einige europäische Banken erreichen bei Sustainalytics ESG-Spitzenwerte, während sie bei MSCI nur im Mittelfeld rangieren. Je nach Agentur werden unterschiedliche Kennzahlen herangezogen oder bestimmte Aspekte unterschiedlich gewichtet, weil sie für die Branche oder für bestimmte Unternehmen vielleicht als besonders wichtig erachtet werden“, erklärt Demi Angelaki, Global Liqudity Portfolio Manager bei Aviva Investors.
Bei der Datenqualität ist noch viel Luft nach oben
Die ESG-Berichterstattung ist weniger detailliert als die klassische Finanzberichterstattung und auch die Vergleichbarkeit zwischen zwei Unternehmen ist nicht gegeben.
„Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Übersichtstabelle über die ESG-Kennzahlen erstellen, die Sie für eine bestimmte Branche für relevant halten. Wenn Sie dazu die aktuellsten Abschlüsse heranziehen, könnten Sie in einigen Fällen gerade einmal 20 bis 30 Prozent der Zellen mit Werten befüllen“, so Butters.
Die Qualität und Verfügbarkeit von ESG-Daten bessern sich
Qualität und Verfügbarkeit von Daten bessern sich jedoch, entweder durch verstärkte Regulierung oder Sensibilisierung. Waren Nachhaltigkeitsberichte früher sehr allgemein gehalten, werden die Angaben nun auch mit Kennzahlen, Zielvorgaben, Fortschrittsberichten und KPIs untermauert.1
Doch um für die Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsthemen einen Basisstandard zu entwickeln, bedarf es weiterer Anstrengungen. Wenn Unternehmen ihre ESG-Daten nicht offenlegen, können die Asset Owner keine genauen Angaben zum ESG-Profil ihrer Positionen machen.2 Erfreulicherweise beginnen sich die ESG-Berichterstattungsstandards einander anzunähern, was den Nebel für Unternehmen und Anleger etwas lichten dürfte.3
Auch als Ausgangspunkt für die Ermittlung des Nachhaltigkeitsprofils eines neuen Unternehmens, für das Research im Credit-Bereich und als Grundlage für Produktvergleiche in Berichten an den Kunden sind ESG-Ratings sinnvoll.
Guter Ausgangspunkt
Immer die gleiche externe Bewertung zu verwenden, erleichtert Researchabteilungen zudem ein genaueres Verständnis der Methodik und ihrer Grenzen.
„Mit „Elements“ haben wir unsere eigene quantitative ESG-Bewertung. Darin sind unter Berücksichtigung von ESG-Faktoren mehrere sektor- und branchenspezifische Indikatoren zusammengefasst. Nachdem der Elements-Wert feststeht, durchforste ich die MSCI-Analyse für das Unternehmen auf spezifische ESG-Aspekte. Je nach Bedarf kann ich dort ansetzen und immer tiefer bohren“, erklärt Alessandro Rovelli, Senior Credit Research Analyst bei Aviva Investors.
Anleiheanalysten, die sich mit den ESG-Risiken und -Chancen vertraut gemacht haben, können sich ein ganzheitliches Bild von dem Unternehmen machen
Zwar wirken sich ESG-Ratings nicht immer direkt auf die Bonitätsbewertung von Unternehmen aus, aber Anleiheanalysten, die sich mit den ESG-Risiken und -Chancen eines Emittenten vertraut gemacht haben, können sich ein ganzheitliches Bild von dem Unternehmen machen. Ist ein Geschäftsmodell etwa CO2-lastiger als das der Wettbewerber und es soll eine CO2-Steuer eingeführt werden, sind die Auswirkungen auf Ertrag und Bilanz recht genau absehbar.
Andere Risiken sind dagegen eher qualitativer Natur und damit schwerer abzuschätzen. So kann ein kontroverses Glied in der Lieferkette ein Unternehmen vor die unterschiedlichsten Herausforderungen stellen – von der Abwendung eines Imageschadens für die Marke bis hin zu einem kostspieligen Prüfmarathon für die Richtlinien, Audits und Geschäftspraktiken des Unternehmens.
„Während sich Credit-Analysten zuallererst die Cashflows und die Bilanzen ansehen, stehen in den MSCI-Berichten und den Analysen der ESG-Abteilung die Aspekte Umwelt und Soziales und insbesondere die so wichtige Unternehmensführung im Mittelpunkt. Diesen Kriterien messen wir in unseren Anlageentscheidungen große Bedeutung bei. Das ESG-Team übt auch Stimmrechte bei Hauptversammlungen von Unternehmen aus und bringt damit die besten Voraussetzungen mit, um fragliche Aspekte zu analysieren und zur Sprache zu bringen“, so Rovelli.
Die Tücken der Momentaufnahme
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Analyse ist, dass anders als bei den rückwärtsgewandten Momentaufnahmen, auf denen externe ESG-Ratings beruhen, auch berücksichtigt werden kann, wie dynamisch sich das ESG-Profil eines Unternehmens entwickelt.
„Bei der vollständigen Bewertung eines Unternehmens beurteilt der ESG-Analyst den Ist-Zustand (positiv, neutral oder negativ) und den Ausblick, also die Frage, ob sich der ESG-Trend verbessern, unverändert bleiben oder verschlechtern wird. Unser hauseigenes Bewertungssystem berücksichtigt zudem auch, wie stark sich ein Unternehmen wandelt“, erläutert Butters.
Anleiheanalysten und Portfoliomanager können sich auf andere Aspekte konzentrieren, solange keine Verschlechterung eintritt.
Die Trend-Einschätzung ist darum so hilfreich, weil die Anleiheanalysten und Portfoliomanager sich bei Titeln mit starken ESG-Werten auf andere Aspekte konzentrieren können, solange keine Verschlechterung eintritt.
Andererseits können auch bei Unternehmen mit schwachen ESG-Kennzahlen Argumente für die Beibehaltung der Position sprechen, entweder weil die Bewertung das Risiko rechtfertigt – was bei Portfolios vertretbar ist, die nicht auf verantwortungsbewusste Anlagen ausgerichtet sind – oder weil ein deutlicher Aufwärtstrend erkennbar ist.
„Es kann durchaus Situationen geben, in denen man in ein Unternehmen investiert, um an den zukünftigen Verbesserungen zu partizipieren. Die Einschätzung der Dynamik wäre in diesem Fall viel wichtiger als die Bewertung des Ist-Zustands“, so Butters.
Persönliche Treffen mit dem Führungszirkel eines Unternehmens vermitteln unverzichtbare Einblicke in qualitative Aspekte. So weiß Richard Butters aus seinen Gesprächen mit Spitzenmanagern über Umweltaspekte und deren Berücksichtigung in den Vergütungssystemen: „Wenn die Manager klare Antworten scheuen und sich stattdessen in Plattitüden flüchten, bekomme ich Zweifel an ihrem Engagement. Wenn aus ihrer Antwort dagegen echte Überzeugung spricht und sie dies mit Leistungskennzahlen und deren Berücksichtigung im Vergütungsplan untermauern, habe ich viel mehr Vertrauen und lasse das auch in meine Analyse einfließen.“
Wo bestehen Diskrepanzen?
Hilfreich kann außerdem der Blick auf die Bereiche oder Firmen sein, deren ESG-Profil von verschiedenen Bewertungssystemen unterschiedlich eingeschätzt wird. Exemplarisch hierfür steht Boohoo. Während der Online-Modehändler im ESG-Ranking von MSCI am oberen Ende der Skala stand, ergab das hauseigene ESG-Bewertungssystem von Aviva Investors zwar ebenfalls einen positiven Wert – was die Grenzen einer rein kennzahlenbasierten Analysemethode aufzeigt –, ordnete das Unternehmen im Vergleich zu seinen Wettbewerbern aber eher im Mittelfeld ein.
Der Austausch mit dem Managementteam von Boohoo warf jedoch erhebliche Zweifel an der Unternehmensführung auf, die auch von den Investment-Teams geteilt wurden.
Volkswagen hingegen ist ein gutes Beispiel für die umgekehrte Konstellation. Der Abgasskandal, der den deutschen Autokonzern Ende 2015 in den Abgrund riss, wäre wohl auch bei regelmäßigen Treffen mit dem Vorstand kaum vorherzusagen gewesen – schließlich handelte es sich um einen wohlkaschierten Betrug. Interessant ist aber, was seither passiert ist.
„Als der Skandal bekannt wurde, wurden einem die Anleihen förmlich hinterhergeworfen. Wir beschlossen, unsere Positionen zu halten, weil wir überzeugt waren, dass sich das Unternehmen letztlich aus der Krise herauskämpfen würde“, erklärt Rovelli. „Und tatsächlich: Nach drei bis sechs Monaten hatten sich die Anleihekurse erholt und nach zwölf Monaten waren die Straf- und Vergleichszahlungen weitgehend festgezurrt, sodass Volkswagen unter die finanziellen Folgen einen Schlussstrich ziehen konnte.“
Durch Research und aktives Engagement fand Rovelli heraus, dass sich in Wolfsburg ein Richtungswechsel vollzogen hat, von der Strategie – statt auf Dieselmotoren liegt der Schwerpunkt jetzt auf Elektroautos – bis hin zur Unternehmenskultur.
„Natürlich wirft die Unternehmensführung bisweilen noch Fragen auf, aber in puncto Umweltschutz hat sich einiges getan: Kein anderer Autobauer steckt so viel Geld in die Elektromobilität, und beim Produktionsvolumen von Elektrofahrzeugen muss sich VW nur Tesla geschlagen geben. Vor diesem Hintergrund haben wir sowohl die Bonitäts- als auch die ESG-Bewertung von Volkswagen angepasst“, so Rovelli weiter.
Bei MSCI hingegen verschlechterte sich das ESG-Rating von VW durch den Abgasskandal von BBB auf CCC und verharrt auf diesem Niveau – trotz der vielen Veränderungen. Begründet liegt dies in den immer neuen Nachrichten über Bußgelder oder Vergleichsvereinbarungen, die MSCI jedes Mal zu einer Herabstufung des ESG-Ratings von Volkswagen veranlassen.
Rovelli hält dieses Vorgehen für ungerechtfertigt. „Der Wandel, der sich in dem Unternehmen vollzieht, seine sich verbessernden Finanzdaten und ESG-Werte und die Wahrscheinlichkeit, dass der positive Trend anhält, sollten mit in die Bewertung einfließen.“
Welche Kriterien sind für uns wichtig?
ESG-Kriterien selbst zu bewerten ist schwieriger, als Unternehmen mit schwachen Kennzahlen einfach zu meiden. Für aktive Manager, die ihre Verantwortung im Hinblick auf die aktive Einflussnahme und Dialogführung mit den Unternehmen ernst nehmen, gibt es durchaus gute Gründe für Anlagen in ESG-Underperformer, kann man so doch dazu beitragen, die ESG-Geschicke des Unternehmens zum Guten zu wenden.
Die Ansprüche der Kunden an die Nachhaltigkeit ihrer Portfolios steigen
Zudem müssen sich Standardportfolios an ihren Benchmarks messen lassen, was von den Managern einen gewissen Pragmatismus und eine Abwägung zwischen ESG-Risiken und Renditechancen erfordert. Auf der anderen Seite steigen die Ansprüche der Kunden an die Nachhaltigkeit ihrer Portfolios.
„Normalerweise stelle ich bei der Portfoliozusammensetzung die Performance in den Vordergrund. Aber bei einer Strategie, die mit einem bestimmten UN-Nachhaltigkeitsziel im Einklang stehen soll, schaue ich zuallererst auf die Wirkung eines Unternehmens unter wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Gesichtspunkten“, schließt Butters.