Der Krieg in der Ukraine und zunehmende geopolitische Spannungen veranlassen Regierungen weltweit, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Wir beleuchten die wichtigsten Implikationen für Kapitalanlagen.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit folgenden Themen:
- Warum Verteidigungsetats weiter steigen werden
- Was das für Rüstungsunternehmen bedeutet
- Die wichtigsten ESG-Implikationen
Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Im Zuge dieser Invasion kam es zu einer Vielzahl von Raketenangriffen auf Städte im ganzen Land. Zu Beginn des Konflikts sah es nach einem schnellen Sieg Russlands aus, denn russische Panzer standen bereits kurz vor Kiew.
Achtzehn Monate später, mit Zehntausenden Toten auf beiden Seiten, sieht es ganz danach aus, als könnte sich der Konflikt in einer Pattsituation festfahren. Trotz des erbitterten Widerstands der Ukraine gibt es kaum Zweifel daran, dass das Land dem russischen Angriff allein nicht hätte standhalten können. Der Westen hat mehrere Milliarden Dollar in die Hand genommen, um die ukrainische Verteidigung zu stärken.
Die zunehmenden Spannungen in anderen Regionen setzen die Regierungen zusätzlich unter Druck, die Verteidigungsausgaben weltweit deutlich zu erhöhen. Für Rüstungsunternehmen ist das ein Segen – mit erheblichen Folgen für Anleger.
Eine gefährlichere Welt
Nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) stiegen die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2022 real um 3,7 Prozent auf einen neuen Höchststand von 2,24 Bio. USD. Die Militärausgaben der Staaten in Mittel- und Westeuropa beliefen sich auf insgesamt 345 Mrd. USD. Auf realer Basis wurden damit erstmals die Militärausgaben des Jahres 1989, am Ende des Kalten Kriegs, übertroffen.1
Der Verteidigungsetat hat politisch an Bedeutung gewonnen, vor allem in Europa
„Die Ära der Friedensdividende liegt hinter uns. Die Welt wird gefährlicher, der Verteidigungsetat hat politisch stark an Bedeutung gewonnen, vor allem in Europa,“ sagt Ahmed Behdenna, Senior Portfolio Manager, Multi-Strategy-Team.
Er rechnet damit, dass die Verteidigungsausgaben in Europa auf absehbare Zeit weiter rasant steigen werden. Damit wird sich der die letzten 60 Jahre prägende Trend sinkender Ausgaben umkehren. Während die Militärausgaben der Länder der Europäischen Union im Jahr 1960 im Durchschnitt knapp 4 Prozent des BIP betrugen, sind sie bis zum Jahr 2020 auf gut 1,5 Prozent gesunken.2
Nachfrage und Abschreckung
Das Ausmaß der Nachfrage der ukrainischen Streitkräfte nach Munition und Sprengstoffen hat offengelegt, dass die Lagerbestände an Militärausrüstung in Europa unzureichend sind. Die Ausgaben müssen erheblich steigen, will die Region eine ausreichende Abschreckungsreserve aufbauen.
Damit wird die industrielle Produktionskapazität in Europa auf den Prüfstand gestellt. Rüstungsfirmen verlangen feste staatliche Zusagen, um die erheblichen Investitionen in Produktionskapazitäten finanzieren zu können.
Die Militärausgaben müssen erheblich steigen, will Europa eine ausreichende Abschreckungsreserve aufbauen
Das britische Unternehmen BAE Systems gab am 10. Juli bekannt, dass es von der britischen Regierung neue Aufträge erhalten habe, um die Munitionsproduktion zu steigern. Nach Angaben von BAE Systems ermöglicht der Deal dem Unternehmen, seine Produktionskapazitäten für die wichtigen 155mm-Artelleriegeschosse (dem Standard für die meisten NATO-Haubitzen, Artilleriegeschütze mit großer Reichweite) um das Achtfache zu steigern.3
Die Militärausgaben der NATO-Mitglieder sind laut SIPRI im Jahr 2022 auf 1,232 Bio. USD angestiegen. Auf die USA entfallen dabei 71 Prozent der Gesamtsumme. Der britische Premierminister Rishi Sunak fordert die NATO-Staaten auf, mindestens zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Dieses Ziel wurde bereits vor fast zwanzig Jahren ausgegeben, doch nur neun von 30 Mitgliedstaaten haben es im Jahr 2022 erreicht.
Abbildung 1: Verteidigungsausgaben der NATO im Jahr 2022
Hinweis: Geschätzte Militärausgaben der NATO-Staaten in den Jahren 2014 und 2022 und Anteil am BIP (in Mrd. USD, zu konstanten Wechselkursen des Jahres 2015).
Quelle: NATO, 7. Juli 2023.4
Der Krieg in der Ukraine mag zwar für einen Großteil des Ausgabenanstiegs bei den NATO-Mitgliedern verantwortlich gewesen sein, angesichts des Drucks, die von China, Iran und Nordkorea ausgehende Bedrohung zu bekämpfen, ist es jedoch selbst bei einem baldigen Kriegsende nur schwer vorstellbar, dass die Verteidigungsausgaben stark zurückgehen werden.
China-Krise
Wenngleich die USA deutlich mehr für die Verteidigung ausgeben als jedes andere Land (im letzten Jahr dreimal so viel China, der größte Konkurrent der USA), ist bei den Verteidigungsausgaben im Reiche der Mitte ein rasanter Anstieg zu verzeichnen. So steht für das Jahr 2022 ein Plus von mehr als vier Prozent zu Buche.
Abbildung 2: Chinas wachsende militärische Stärke
Quelle: Weltbank, Berechnungen von Aviva Investors, Juli 2023.5
Während China seine Muskeln gegenüber Taiwan, im Südchinesischen Meer und in anderen Teilen Asiens spielen lässt, sind die USA und andere Länder wie Japan und Australien gezwungen zu reagieren. Die Analysten der Bank of America schätzen, dass die Ausgaben der NATO-Staaten und anderer „befreundeter“ Länder wie Australien bis etwa 2030 auf 1,8 Bio. USD klettern könnten.6
Richard Saldanha, Portfoliomanager der Aviva Investors Global Equity Income-Strategie, erklärt, dass die steigenden staatlichen Ausgaben für Aufträge an Rüstungsunternehmen dazu führen, dass viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, die Nachfrage zu bedienen, was zu weiteren Auftragsrückständen führt.
Bei Rüstungsunternehmen ist durch die Bank ein starkes Auftragswachstum zu verzeichnen
BAE Systems meldete im Februar beispielsweise Aufträge in einem Rekordvolumen von 37,1 Mrd. GBP für 2022, das damit fast das Doppelte des Vorjahresumsatzes beträgt. Dadurch stieg der Auftragsbestand des Unternehmens auf einen Rekordwert von 58,9 Mrd. GBP, was dem Umsatz über einen Zeitraum von 2,5 Jahren entspricht.7
„Bei Rüstungsunternehmen ist durch die Bank ein starkes Auftragswachstum zu verzeichnen; dies liefert klare Anhaltspunkte für die Gewinnentwicklung in den kommenden Jahren,“ so Saldanha. „Führen Sie sich dann einmal vor Augen, dass wir derzeit in einer von Unsicherheit geprägt Welt leben. Diese Unternehmen generieren einen stetigen Cashflow und zahlen konstant Dividenden. Das macht sie unter Ertragsgesichtspunkten attraktiv,“ erläutert Saldanha.
Cyber-Bedrohungen
James Balfour, Portfoliomanager der Aviva Investors UK Equity Income-Strategie, hält ebenfalls beträchtliche Positionen in britischen Rüstungswerten. Die Positionen wurden vor dem Krieg in der Ukraine in der Überzeugung aufgebaut, dass die politischen Spannungen im Pazifik und in anderen Regionen wahrscheinlich nicht nachlassen werden.
Seiner Ansicht nach war es schon seit einiger Zeit klar, dass die Länder ihre Ausgaben für traditionelle militärische Ausrüstung erhöhen müssten, was der Industrie insgesamt zugute käme. Unternehmen, die mit den richtigen Technologien arbeiten, würden jedoch davon am meisten profitieren.
Aufgrund der wachsenden Bedrohung durch Kriegsführung im Cyber Space besteht hier großes Wachstumspotenzial
„Aufgrund der wachsenden Bedrohung durch Kriegsführung im Cyber Space besteht hier großes Wachstumspotenzial. Nehmen Sie zum Beispiel Chemring oder BAE Systems: Beide Unternehmen haben Geschäftsbereiche, die Dienstleistungen im Bereich Cybersicherheit erbringen,“ so Balfour.
Dieser Aussage stimmt Saldanha zu. „Das gilt für alle Verteidigungsunternehmen. Da sich die Art der Kriegsführung ändert, stehen Nachrichtendienste und Cybersicherheit in der Rangliste der Ausgaben vor traditionelleren Bereichen. Es geht weniger um Bodentruppen, sondern mehr um die Bekämpfung von Bedrohungen oder deren Identifizierung, bevor sie zu einem echten Problem werden.“
Im Mai drangen chinesische Hacker in die E-Mail-Konten von zwei Dutzend Organisationen ein, darunter auch US-amerikanische Regierungsbehörden, und versuchten im Rahmen einer Spionageaktion offenbar, sich Zugang zu sensiblen Informationen zu verschaffen.
Im August 2022 war die britische Gesundheitsbehörde (National Health Service) von einem Ransomware-Angriff auf einen Softwareanbieter betroffen. Der Angriff hatte weitreichende Ausfälle in der ganzen Behörde zur Folge und beeinträchtigte Dienste wie Patientenüberweisungen, Krankenwageneinsätze, Terminbuchungen außerhalb der Sprechzeiten, psychiatrische Dienste und die Verschreibung von Medikamenten in Notfällen.
Verteidigung und Diversifizierung
Behdenna ist der Auffassung, dass das unsichere makroökonomische Umfeld, in dem eine Rezession mit der Inflationsbekämpfung durch die Zentralbanken ein ständiges Risiko darstellt, die Attraktivität des Sektors im Vergleich zum breiteren Aktienmarkt steigert.
„In einem solchen Umfeld bietet dieser Sektor ein ausgeprägtes defensives Profil, das sehr geschätzt wird. Die Tatsache, dass Positionen im Verteidigungssektor zur Diversifizierung des Portfolios beitragen können, ist ein zusätzlicher Vorteil,“ fügt er hinzu.
Wenige Rüstungsunternehmen sind allein von steigenden Verteidigungsausgaben abhängig
Da die meisten großen Rüstungsunternehmen auch im Bereich der zivilen Luft- und Raumfahrt tätig sind, sind nur wenige allein von steigenden Verteidigungsausgaben abhängig, wie etwas das US-Unternehmen Raytheon. Etwa die Hälfte seines Geschäfts entfällt auf den Verteidigungsbereich, die andere Hälfte auf die zivile Luft- und Raumfahrt; das Unternehmen ist Eigentümer von Pratt and Whitney, das Triebwerke für Unternehmen wie Airbus und Boeing herstellt.
In den meisten Fällen beeinträchtigt dies jedoch nicht die Anlageeinschätzung, insbesondere nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Obwohl die zivile Luft- und Raumfahrt bekanntermaßen zyklischen Charakter hat, bestehen für den Sektor derzeit günstige Rahmenbedingungen, da die Branche nach einem COVID-bedingten Abschwung nun stark im Aufwind ist.
„Diese Diversifizierung bedeutet einen defensiven Ertragsstrom aus dem Verteidigungsgeschäft, den Unternehmen wie Raytheon nutzen, um Investitionen zu tätigen und ihr kommerzielles Luft- und Raumfahrtgeschäft auszubauen“, erklärt Saldanha.
ESG-Aspekte
Entgegen falscher Vorstellungen wurden Rüstungsunternehmen aus ESG-Sicht schon immer differenziert und pragmatisch und nicht grundsätzlich negativ betrachtet. Wenn überhaupt haben nur wenige Manager Verteidigungsunternehmen kategorisch ausgeschlossen, da die Aufrechterhaltung einer soliden Verteidigungsfähigkeit durch „verantwortungsbewusste“ staatliche Akteure für die Wahrung von Frieden und Stabilität unerlässlich ist.
Dies wird es uns ermöglichen, Unternehmen, die Atomwaffen herstellen, differenziert zu betrachten, wenn wir Gewissheit über die beabsichtigten Einsatzzwecke haben
Mirza Baig, Global Head of ESG, erklärt, dass Aviva Investors zwar immer noch keine Investitionen in Unternehmen tätige, die Streubomben, Landminen und andere umstrittene Rüstungsgüter herstellen, die wahllos auch die Zivilbevölkerung gefährden. Der Krieg habe jedoch zu einer differenzierteren Haltung beispielsweise gegenüber Atomwaffen geführt.
„Dies ändert nichts an unseren grundlegenden Bedenken in Bezug auf Atomwaffen, diese Herangehensweise wird es uns aber ermöglichen, Unternehmen, die Atomwaffen herstellen, differenziert zu betrachten, wenn wir Gewissheit über die beabsichtigten Einsatzzwecke haben, insbesondere zur Abschreckung und nicht zum aktiven Einsatz“, so Mirza Baig.
Auch wenn Saldanha bei seinen Investments in Rüstungsunternehmen weiterhin ESG-Aspekte berücksichtigt und Ausschlussregelungen definiert hat, „ist es wichtig zu erkennen, dass Verteidigungsunternehmen aus gesellschaftlicher Sicht eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, uns vor diesen Bedrohungen zu schützen“.